Der Marsch
An welchen Problemen scheitern Teilnehmer? (etwa jeder Zweite schafft es nicht ins Ziel!)
1. Blasen an den Füßen, die aufgehen und so schmerzen, dass einem jede Lust vergeht; oder andere Reibeflächen, die Profis den "Wolf" nennen
2. Die Muskeln verhärten so, dass irgendwann keine richtige Bewegung mehr geht
3. Der Kreislauf macht schlapp
4. Eine Kombination aus allem...
Wie ich glaube, bin ich bestens vorbereitet. Ich habe mir die Super-Antiblasensocken besorgt und ein Paar zum Wechseln dabei. Ich habe Energieriegel im Gepäck und nicht zu viel und nicht zu wenig zu trinken (man plant mit etwa 1 Liter pro 10 Kilometer). Und ich habe meine Füße neurographisch getaped:
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Kann also nichts schiefgehen, oder?
13:00 Uhr, Sportplatz Krailling. Der Start mit so vielen Menschen (ich bin in der ersten Gruppe angemeldet) ist für mich etwas ungewohnt. Sonst sind da nur ich und mein Freund (der heute ausgerechnet noch verletzungsbedingt ausfällt) – und jetzt machen sich geschätzt 200 Menschen gleichzeitig auf den Weg. Insgesamt sollen es über 2000 sein!
Es dauert bis Kilometer 5, bis ich so in meinen eigenen Tritt komme, denn bis dahin ist das Feld noch ziemlich dicht und langsamere wie schnellere Geher behindern sich gegenseitig.
Irgendwann ist da Martin aus dem Ruhrpott vor mir, den Rucksack bestickt mit Marschtrophäen. Ein Profi also! Aber er sei heute gar nicht so gut drauf, erzählt er mir. Und wahrscheinlich mache er einen Zwischenstopp im Kloster Andechs... Echt jetzt?*
Bei Kilometer zehn fängt es an zu schütten. Heftiger Regenschauer, aber nur kurz.
Glück gehabt?
Inzwischen habe ich Alex kennengelernt, einen jungen Polizisten aus Österreich, sportlich, groß. Ebenfalls zum ersten Mal dabei und in meinem Tempo unterwegs. Ein Glücksfall für uns beide, wie sich später herausstellen wird...
Vor dem ersten Versorgungsposten in Frieding nach 22 Kilometern der zweite Regenschauer, diesmal etwas länger. Meine Hose ist nass. In den Schuhen das Gefühl von Dreck oder Steinen.
16:40 Uhr. Erster Versorgungsposten. Die Bänke sind nass, aber wir wollen ohnehin nicht solange bleiben und uns hinsetzen. Das Grundgefühl ist (noch) ziemlich gut. Wir tanken frisches Wasser, Isodrink. Ich probiere Banane, Gewürzgurke und Cherrytomaten (ich glaube, zu solchen Mischungen sind sonst nur Schwangere fähig...). So richtig Hunger hab ich keinen, doch weiß ich natürlich, dass ich auf der ganzen Strecke voraussichtlich 8000 Kalorien verbrauchen werde.
Aus meinen Schuhen schüttele ich tatsächlich ein paar kleine Steinchen und sonstigen Dreck heraus.
Um kurz vor fünf machen wir uns weiter auf den Weg. Nur noch 78 Kilometer liegen vor uns und zunächst eine weitere Steigung, hoch nach Andechs.
Bei Kilometer 30 der dritte Schauer, heftig. Meine Hose ist komplett durchnässt, die Schuhe sind eigentlich wasserdicht. Aber kommt da vielleicht doch etwas durch? Schwer zu sagen. Und sind die tollen Socken nicht irgendwie doch nicht so atmungsaktiv wie angepriesen?
Etwa bei Kilometer 40 bin ich mir sicher: Da haben sich schon die ersten Blasen an den Zehenballen gebildet. Das hatte ich zuvor nie! Und zuvor war dann bei Kilometer 40 meistens auch schon das Ziel in Reichweite...
20:48 Uhr am 2. Versorgungspunkt, 45 Kilometer nach dem Start in Percha/Starnberg. Wir sind voll in dem Zeitplan, den ich mir tags zuvor noch gezeichnet hatte.
Das erste Mal in meinem Leben (ungelogen!) verwende ich Blasenpflaster und wechsle auf einer Wanderung die Socken. Und weil es dunkel wird, holen wir unsere Stirnlampen hervor. Ebenso lädt Alex mit meiner Powerbank sein Handy auf (seine Powerbank hatte den Geist aufgegeben) – wichtig, denn das Handy rettet einem nachts mindestens einmal die Motivation, wie sich zeigen wird... Dafür gibt mir Alex etwas von seinen Salztabletten. Auch wichtig.
Was ich hier noch merke: Alles, was zum Essen angeboten wird, ist mir jetzt schon leicht zuwider. Mein Bauch grummelt und ich ahne schon, dass hier mein eigentlicher Kampf beginnt.
21:22 Uhr. Die Pause hat länger als geplant gedauert. Aber jetzt geht es weiter, in dem Wissen, dass in den nächsten sieben Kilometern der steilste Anstieg auf uns wartet.
Es ist dunkel. Es geht bergauf. Es wird hart.
23:50 Uhr. Versorgungspunkt 3, angeblich bei Kilometer 59. Überraschenderweise sind wir auch hier noch in dem Zeitplan, den ich gezeichnet habe, sogar 10 Minuten schneller!
Aber mein Kreislauf kämpft. Mein Magen krampft. Und am liebsten würde ich diese ganzen Energieriegel weit von mir wegwerfen – ebenso die Bananen, Milchbrötchen und anderen gut gemeinten Köstlichkeiten... Die Sanitäter raten mir aber, doch eine Banane zu essen und dann etwas Brot, um Kohlenhydrate zu tanken. Alex entdeckt eine Gemüsesuppe, ein Highlight auch für mich. Gleichzeitig verstehe ich jetzt, was die Profis mit "Tiefpunkt" meinen. An diesem Punkt hilft mir am meisten, dass Alex sich irgendwann aufrafft und mich zum Weitergehen animiert. Kurz vor halb eins geht´s dann weiter – mit weiteren Bananen im Gepäck und einer Scheibe Brot, an der ich die nächsten zwei Stunden rumkauen werde...
Gefühlt drei Kilometer später kommen wir zum 60-er-Kilometer-Schild. Laut ursprünglicher Karte sollte das schon mindestens Kilometer 62 sein. Tiefpunkt 2...
+++
Ich wurde auf Facebook gefragt, inwiefern mir meine Zeichnungen geholfen haben.
Auf dem Weg: kaum spürbar. Allerdings haben sie, davon bin ich überzeugt, etwas in mir verankert, das mich mental die ganze Zeit über Wasser gehalten hat:
+ die Strecke
+ das "Es ist möglich"
+ das Grundgefühl von "Ich schaffe das"
+ das Ziel.
Und sie haben mich verbunden mit anderen Menschen – vielleicht habe ich mir so jemanden wie Alex ins Boot geholt (siehe den NeuroSketch mit den zwei Personen); und mit Sicherheit haben mir die vielen Menschen geholfen, die meinen Case auf Facebook und Instagram verfolgt und mich mit ihren Worten unterstützt haben (darauf komme ich später nochmal zurück).
Es liegt eine scheinbar endlose Strecke vor uns, über 20 Kilometer bis zum nächsten Versorgungspunkt. Die Isar, an der wir entlanglaufen, mäandert gnadenlos und neurographisch vor sich hin, Kilometer für Kilometer. Wir haben vereinbart, jetzt alle fünf Kilometer eine Minipause zu machen, um Kräfte zu sammeln. Aber ich merke, dass in jeder Pause mein Kreislauf absackt. So paradox es klingt: Beim Gehen geht´s mir immer noch am besten!
Es geht sich fast von ganz allein. Und: Die Blasen müssen zwar mittlerweile gigantisch sein, allerdings stören sie mich nur immer kurz beim Loslaufen nach den Pausen. Vielleicht hilft mir hier ja auch mein neurographisches Taping?
4:33 Uhr. Wir machen zehn Minuten Pause an einem Überraschungs-Versorgungspunkt vor dem Deutschen Museum in München. Wir sind endlich in der Stadt angekommen und das hebt etwas die Stimmung. Jetzt merken wir, dass wir vorangekommen sind. Auch wenn es von hier aus immer noch
25 Kilometer bis ins Ziel sind...
Und jetzt könnte es so schön werden! Kleine Sightseeingtour durch das Zentrum von München. Allerdings kommt kurz vor dem Marienplatz der vierte große Schauer vom Himmel – und es ist mir egal. Auch den Regenschutz ziehe ich nicht mehr über den Rucksack, denn jedes Anhalten kostet Kraft.
5.22 Uhr Nach einem kurzen Spaziergang durch den Englischen Garten dämmert es über dem Siegestor an der Ludwigsstraße. Wir gehen an den Orten meiner Studienzeit vorbei, durch das leere Schwabing. Kurz vor dem Olympiagelände die Wegmarke 80 Km.
So weit bin ich noch nie am Stück gegangen! Ab jetzt ist jeder Kilometer neuer persönlicher Rekord!
(irgendwie muss man sich ja motivieren)
Was mich auf diesen Kilometern rettet: Ein Energie-Gel, das ich mir bis zum Schluss aufgeheben wollte. Es hilft mir die beiden Olympiaberge hochzukommen und gibt mir Kraft, die Toiletten am letzten Versorgungspunkt noch rechtzeitig zu erreichen... Auf dem Weg dahin entsteht dieses Foto, das für mich im Nachhinein sinnbildlich für die Unterstützung steht, die ich rund um das Ereignis erfahren durfte: Von Freunden auf Facebook/Instagram, Teilnehmer:innen, meiner Familie und auch von meinem Wanderfreund, der mich nachts und morgens ein paar mal angerufen hat (daher ist das Handy wirklich wichtig, abgesehen, dass es mich eine zeitlang mit Musik versorgt hat, die ebenfalls beschwingt...).
Dieser engelförmige Schatten neben meinem. (Und da war außer mir niemand in dieser Unterführung.)
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Energie, die nötig ist, weiterzukommen.
6:51 Uhr bin ich am Versorgungspunkt 4 angekommen, Kilometer 84. Neun Minuten vor meinem Zeitplan, das grenzt fast an ein Wunder. Alex hat Beschwerden mit seinen Sprunggelenken, kommt aber kurze Zeit später auch an.
Letzte große Pause vor dem Finale. Trotz Übelkeit (es gibt leckeren Milchreis, von dem ich aber genau zwei Löffel runterbringe ohne mich zu übergeben) stellt sich das Gefühl ein:
Es ist jetzt in Reichweite! "Nur" noch 16 Kilometer! Und die Sonne scheint. Eine Teilnehmerin von der Schwäbischen Alb schenkt mir einen Energy-Drink.
Dieses Mal ziehe ich Alex mit hoch und gegen 7:35 Uhr verlassen wir den Rastpunkt.
Es geht auf Schloss Nymphenburg zu...
und um das Schloss herum...
und nochmal um das Schloss herum...
und nochmal um das Schloss herum...
Nein, nicht im Kreis, sondern immer entlang der Mauern des Schlossparks. Der ist so riesig, dass es praktisch bis Kilometer 90 dauert, um ihn hinter sich zu lassen.
Inzwischen haben Alex und ich beschlossen, das letzte Stück getrennt zu laufen – denn er braucht die Minipausen, die für mich tödlich sind.
Ich will es jetzt einfach nur noch zu Ende bringen.
Ich kaue meine letzten Energiegummibärchen. Höre Musik. Telefoniere mit meinem Freund, der meine Bewegung auf seiner App mitverfolgen kann – und mir sagen, wie weit ich schon bin. Denn bei mir ist inzwischen diese Funktion ausgefallen und ich kann mich nur noch an den Schildern der Veranstalter orientieren.
9:38 Uhr. Endlich das 95-Kilometer-Schild! Ich gehe wie ein Automat und überhole sogar noch einige Wanderer. Manche humpeln so stark, dass ich mir gar nicht vorstellen mag, wie lange die sich noch quälen müssen...
Einen Kilometer später, auf der Brücke über die Autobahn, holt mich mein Schwager ein. Hä? Wo kommt der jetzt her? Er weiß, dass ich um diese Zeit ungefähr hier vorbeikomme und ist die ganze Strecke vom Schloß Nymphenburg gejoggt.
Ich bekomme noch ein Energie-Gel von ihm. Und jetzt zieht er mich die letzten vier Kilometer ins Ziel, wo meine Schwester mit dem jüngsten Sohn warten.
10:41 Uhr. Im Ziel, wieder am Sportplatz Krailling, empfangen von einem frenetisch jubelnden Team der Organisatoren. Krasser Moment. Die ganze Anspannung entlädt sich. Wow!
Finisher-Quote bei diesem Marsch: 55%
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